„Vienna City Fly! – Taufliegen aus der Wohnung liefern neue Erkenntnisse zur Stadtökologie

08. April 2025
Taufliegen der Gattung Drosophila sind häufige Mitbewohner des Menschen, doch ihre Ökologie in städtischen Umgebungen ist noch wenig erforscht – und dies, obwohl sie spannende Einblicke in die Evolution und Biodiversität urbaner Lebensräume bieten. Im Rahmen des Citizen-Science-Projekts „Vienna City Fly“ wurden 2024 von Citizen Scientists 19.100 Taufliegen gefangen, die ein dreiköpfigen Projektteams am NHM Wien analysierte. Insgesamt konnten 13 Arten nachgewiesen werden, darunter zwei in Österreich bislang noch nicht wissenschaftlich dokumentierte Arten.
Projektdaten:
 
Ort der Initiative: Wien, ergänzt durch Proben aus dem Umland
Zeitrahmen der Initiative: seit 2024
Projektleiter: Martin Kapun PhD, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrale Forschungslaboratorien, NHM Wien
Projektbeteiligte: Dipl. Ing. Sonja Steindl, Projektmitarbeiterin „FAIRiCUBE“, Priv.-Doz. Dr. Elisabeth Haring, Leiterin der Zentralen Forschungslaboratorien, NHM Wien
 
Kurzbeschreibung:
Taufliegen der Gattung Drosophila sind häufige Mitbewohner des Menschen, doch ihre Ökologie in städtischen Umgebungen ist noch wenig erforscht – und dies, obwohl sie spannende Einblicke in die Evolution und Biodiversität urbaner Lebensräume bieten. Im Rahmen des Citizen-Science-Projekts „Vienna City Fly“ wurden 2024 von Citizen Scientists 19.100 Taufliegen gefangen, die ein dreiköpfigen Projektteams am NHM Wien analysierte. Insgesamt konnten 13 Arten nachgewiesen werden, darunter zwei in Österreich bislang noch nicht wissenschaftlich dokumentierte Arten.
 
Die Erkenntnisse zur Verbreitung der Taufliegen in Wien wurden in einer der gefundenen Arten, D. melanogaster, tiefergehend untersucht. So ergaben Sequenzierungen des gesamten Genoms einer großen Zahl von Fliegen eine geringere genetische Vielfalt von D. melanogaster in Städten im Vergleich zu ländlichen Populationen aber auch starke Unterschiede in der genetischen Verwandtschaft innerhalb des Stadtgebiets. Der Vergleich mit anderen europäischen Fliegen zeigt jedoch, dass ein Großteil der städtischen Fliegen tatsächlich nahe mit anderen österreichischen Fliegenpopulationen aus dem Umland verwandt ist. Das Projekt „Vienna City Fly“ zeigt, wie selbst Taufliegen wertvolle Hinweise auf ökologische Anpassungen an den vom Menschen geprägten Lebensraum liefern können.
 
Projekthintergrund: Taufliegen der Gattung Drosophila sind den meisten Menschen als lästige Mitbewohner bekannt, die um Obstkörbe herumschwirren. Sie sind jedoch nicht nur wichtige „Mitspieler“ in Ökosystemen, sondern auch faszinierende Organismen mit einer Evolutionsgeschichte, die sie mit dem Menschen teilen. So stammt beispielsweise D. melanogaster, einer der am besten untersuchten genetischen Modellorganismen, aus Afrika südlich der Sahara - genau wie wir. Das Aufkommen der Landwirtschaft vor zehntausenden von Jahren ermöglichte es ihnen und weiteren Drosophila-Arten, gemeinsam mit dem Menschen neue Lebensräume zu erschließen und sich über die ganze Welt zu verbreiten. Dabei mussten sie sich an völlig neue ökologische Bedingungen anpassen, beispielsweise an das Klima in nördlicheren Breiten mit ausgeprägten jahreszeitlichen Unterschieden.
 
Wissenschaftliche Forschung, die darauf abzielt, die genetischen Grundlage von Anpassungen aufzudecken, konzentriert sich in der Regel auf Proben, die abseits menschlicher Siedlungen gesammelt werden. So lassen sich menschliche Einflüsse minimieren, denn üblicherweise möchte man Anpassungsprozesse in natürlichen Lebensräumen untersuchen. Da Taufliegen jedoch eng mit dem Menschen verbunden sind, kann eine ausschließliche Konzentration auf ländliche Umgebungen wichtige
genetische Variationen übersehen, die eventuell zur lokalen Anpassung beitragen.
 
Neben D. melanogaster treten weltweit auch andere Drosophila-Arten in der Nähe des Menschen, ja oft als Mitbewohner, auf. Allerdings haben bislang nur wenige Studien die Zusammensetzung von Drosophila-Artengemeinschaften in städtischen Lebensräumen untersucht. Um solch großflächige Daten zu sammeln, wurde das Citizen Science Projekt „Vienna City Fly“ ins Leben gerufen. Insgesamt 91 engagierten Citizen Scientists fingen unter Einsatz von 278 Fallen 19.100 Taufliegen, die ein dreiköpfigen Projektteams am NHM Wien analysierte.
 
Forschungsfragen: Die Studie „Vienna City Fly“ hat drei Hauptziele mit unterschiedlichen Forschungsfragen:
 
1) Untersuchung der Zusammensetzung städtischer Drosophila-Gemeinschaften:
a) Wie unterscheidet sich die Artenzusammensetzung von Drosophila-Gemeinschaften
im städtischen Raum im Vergleich zu ländlichen oder naturnahen Lebensräumen?
b) Welches sind die wichtigsten Umweltfaktoren, die die Verbreitung der Fliegen in städtischen Gebieten bestimmen?
2) Bewertung der genetischen Vielfalt und Struktur in städtischen D. melanogaster-Populationen:
a) Wie unterscheidet sich die genetische Vielfalt städtischer D. melanogaster-Populationen im Vergleich zu Populationen aus ländlichen Regionen?
b) Beeinflussen wirtschaftlicher Handel und Transport die Verbreitung städtischer D. melanogaster-Populationen, und können Ausbreitungsmuster aus den genetischen Daten abgelesen werden?
 
Erweiterte Ziele:
3) Bewertung der Nutzbarkeit von Citizen Science als Forschungsinstrument:
a) Kann Citizen Science zuverlässige Daten zur Diversität und Ökologie von Drosophila
im städtischen Raum liefern?
b) Wie beeinflusst die Teilnahme an einem solchen Projekt das Bewusstsein und Interesse an Biodiversität und wissenschaftlicher Forschung?
 
Ergebnisse:
Der primäre Fokus des Projekts lag auf dem Stadtgebiet von Wien, das durch sehr heterogene Umgebungen gekennzeichnet ist; diese reichen von dicht versiegeltem Gebiet bis hin zu parkähnlichen Grünflächen oder lockerem Siedlungsraum mit Einfamilienhäusern.
 
Insgesamt konnten 13 Arten nachgewiesen werden. zwei davon waren in Österreich bislang noch nicht wissenschaftlich dokumentiert: Drosophila virilis und Drosophila mercatorum, letztere Arte wurde in Wien sogar als häufigste Art gefunden. Besonders D. mercatorum zeigte eine starke Affinität an hochgradig urbane Lebensräume. Die Erkenntnisse zur Verbreitung der Taufliegen in Wien wurden in einer weiteren Art, D. melanogaster, tiefergehend untersucht. Diese Art, ein weltweit gut untersuchter Modellorganismus wurde ebenfalls häufig in Wien gefunden.
 
Durch die Kombination von Daten zur Häufigkeit der einzelnen Arten und Daten zum Klima und zur Umwelt konnten wir mit Hilfe von Computermodellen Vorhersagen zur Artenverteilung machen,  welche Hinweise darauf geben, welche Lebensräume die einzelnen Arten bevorzugen. Diese Analysen ergaben, dass D. mercatorum auf stark verbaute Stadtgebiete beschränkt ist. Im Gegensatz dazu kommt D. melanogaster häufig in naturnahen und ländlichen Gebieten vor. Dies zeigt, dass selbst in Innenräumen gesammelte Taufliegen wertvolle Einblicke in die Ökologie der Arten und ihre Umweltpräferenzen liefern können.
 
Außerdem wurden Genome von 47 D. melanogaster-Fliegen sequenziert. Ein Vergleich mit ähnlichen genetischen Daten aus ländlichen Regionen in ganz Europa zeigte eine leichte Verringerung der genetischen Variation in städtischen Umgebungen. Die meisten „städtischen Taufliegen“ aus Wien waren eng mit anderen österreichischen Populationen verwandt, was darauf hindeutet, dass der internationale Güterverkehr nur einen geringen Einfluss auf die genetische Vielfalt und Differenzierung innerhalb Wiens hatte.
 
Neben dem Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnisse war ein weiteres Ziel der Forscher*innen, bei Laien Begeisterung für Wissenschaft und Biodiversität zu wecken, - ein voller Erfolg! Das Projekt “Vienna City Fly“ erfreute sich großer Zustimmung und anhaltenden Interesses bei allen freiwillig teilnehmenden Citizen Scientists. Aus einer Online-Umfrage ging hervor, dass 100 % der Beteiligten erneut an einem Citizen Science Projekt teilnehmen würden; 40 % wünschten sich sogar „noch mehr wissenschaftlichen Input“.

Finanzierung: Das Projekt wurde vom NHM Wien im Rahmen des von der EU finanzierten Projekts FAIRiCUBE (https://fairicube.nilu.no/) geplant und ausgeführt. Die nächsten Schritte sind: Um die Weiterführung der Studie gewährleisten zu können, baut das Projektteam weiterhin auf das große Engagement seitens der Bürger*innen und sucht weitere finanzielle Unterstützung. Dazu sollen Forschungsgelder eingeworben werden.
 
Citizen Science:
Anzahl der beteiligten Bürger*innen: 168 Registrierungen, erfolgreiche Sammlung von 91 Teilnehmenden. Viele Mitwirkende, die aktiv Fallen beim NHM Wien abholten und nach erfolgreicher Probenahme zurückgaben, freuten sich nicht nur über die Reduzierung der Anzahl der Tauffliegen in ihren Küchen, sondern waren wissbegierig, mehr über die verschiedenen Taufliegenarten und ihre Biologie zu erfahren. Einige Teilnehmer*innen blieben während des gesamten Projektzeitraums aktiv.
Ein abschließender Fragebogen, der von 63 Teilnehmer*innen ausgefüllt wurde, gab Aufschluss über die demografischen Daten und den Bildungshintergrund der Teilnehmer*innen: Die Citizen Scientists waren überwiegend weiblich (67 %) und verteilten sich auf alle Altersgruppen, mit einer leichten Mehrheit (27 %) in der Altersgruppe der 40- bis 50-Jährigen. 90 % der Teilnehmer*innen hatten ein Bildungsniveau von mindestens einem Bachelor-Abschluss, weswegen in zukünftigen Folgeprojekten eine
Teilnahme verschiedener gesellschaftlicher Gruppen wünschenswert ist.
 
https://nhmvienna.github.io/ViennaCityFly/
 
 
Kurzbiografie der Projektbeteiligten:
 
Martin Kapun PhD, Evolutionsbiologe, Bioinformatiker und Projektleiter eines Teilprojekts des FAIRiCUBE Konsortiums am NHM Wien. Meine Forschungsinteressen richten sich auf die evolutionären Grundlagen von genetischer und Merkmalsvielfalt. Hierzu forsche ich hauptsächlich an Insekten aber auch mit Hilfe von Kollaborationen an vielen anderen Organismengruppen. BSc an der Uni Graz (2004); MSc an der Uni Wien (2007) und PhD an der Vetmeduni Wien (2013) danach wissenschaftliche Forschung als PostDoc und als unabhängiger Gruppenleiter an diversen Universitäten in der Schweiz und an der Meduni Wien. Seit 2021 Bioinformatiker und Staff Scientist am NHM Wien.  
 
Dipl. Ing. Sonja Steindl, Projektmitarbeiterin „FAIRiCUBE“ am NHM Wien seit Oktober 2022. Akademische Ausbildung: BSc an der Universität Wien 2019 (Mikrobiolgie und Genetik). Dipl. Ing. an der BOKU Wien 2022 (Phytomedizin)

Priv.-Doz. Dr. Elisabeth Haring, studierte Biologie und Genetik an der Universität Wien, arbeitet seit 1998 als Forscherin am NHMW und ist Abteilungsdirektorin der Zentralen Forschungslaboratorien im NHM Wien. Sie führt(e) zahlreiche Forschungsprojekte zur Evolution und Systematik verschiedenster Tierarten durch und leitete diverse Projekte zum genetischen Monitoring, z.B. von Braunbären, Fischottern, Libellen oder Krebsen. Mit dem Projekt „Vienna City Fly“ kehrt sie thematisch zu den Forschungsobjekten ihrer Dissertation zurück: den Taufliegen der Gattung Drosophila.
 
Wissenschaftliche Rückfragen:
Martin Kapun PhD | Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrale Forschungslaboratorien, NHM Wien
Tel.: + 43 (1) 521 77 – 414 | martin.kapun@nhm.at
 
Elisabeth Haring, Martin Kapun und Sonja Steindl (v.l.n.r.)
(c) NHM Wien, W. Bauer-Thell
Martin Kapun und Sonja Steindl (v.l.n.r.)
(c) NHM Wien, W. Bauer-Thell
D.mercatorum Mikroskopfoto
(c) NHM Wien, ABOL-Team
D.melanogaster Mikroskopfoto
(c) NHM Wien, ABOL-Team
Mikroskopieren für "City Fly"
(c) NHM Wien, C. Potter
Laborarbeit "City Fly"
(c) NHM Wien, C. Potter
  
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